Die Wurzeln des guten Geschmacks by Carlo Petrini

Die Wurzeln des guten Geschmacks by Carlo Petrini

Autor:Carlo Petrini
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783956141133
Herausgeber: Verlag Antje Kunstmann


6

Biologische Vielfalt:

die wahre Ökologie des Lebens

MANCUSO: Lassen wir den Fast-Food-Müll, und schauen wir uns unsere Ernährungsgewohnheiten einmal genauer an. Dann muss uns eins besonders beunruhigen: dass unsere heutigen Ernährungsgewohnheiten die biologische Vielfalt tendenziell bedrohen. Wir wissen mittlerweile, dass – das ist Pi mal Daumen, aber die Zahlen stimmen im Groben –, dass heute fünfundneunzig Prozent des weltweiten Kalorienbedarfs von nur ungefähr dreißig Pflanzenarten gedeckt werden, obwohl es in der Natur Zehntausende – bislang erforschte – genießbare Arten gibt. Und sechzig Prozent der verbrauchten Kalorien nehmen wir allein über Weizen, Reis und Mais zu uns. Sechzig Prozent des weltweiten Kalorienbedarfs werden von nur drei Pflanzen gedeckt. Nur drei. Unfassbar. Umso mehr, wenn wir uns klarmachen, dass diese Zahl kontinuierlich gesunken ist. In früheren Jahrhunderten wurden erheblich mehr Pflanzenarten verzehrt, obwohl weniger Pflanzenarten verfügbar waren. Die meisten exotischen Pflanzen waren in Europa beispielsweise noch gar nicht angekommen, die brachte erst der Kolonialismus mit. Und wenn wir noch weiter zurückgehen, dienten sogar noch mehr Pflanzenarten als Nahrungsmittel. Im Neolithikum etwa verzehrte man, nach unseren Maßstäben, ungewöhnlich viele Pflanzenarten. Eins der wenigen Völker, die bis heute Jäger und Sammler sind, die Kung San in der Kalahari, sammeln und verzehren regelmäßig mindestens achtzig verschiedene Pflanzenarten. Und verwenden noch weitaus mehr als Heilpflanzen.

Die biologische Vielfalt der Pflanzen, von denen wir uns ernähren, nimmt also ständig ab. Aber was bedeutet das in der Praxis? Es bedeutet vor allem, dass wir uns einem unnötigen Risiko aussetzen – das in der neueren Geschichte der Menschheit bereits zu Katastrophen geführt hat. Denken wir etwa an das, was der Falsche Mehltau zwischen 1845 und 1849 in Irland angerichtet hat. Die Iren vertrauten bei der Ernährung auf eine einzige Pflanzenart: die Kartoffel. Genauer gesagt, auf einige wenige Sorten. Und als der Falsche Mehltau nach Irland kam, zerstörte er schon nach wenigen Jahren fast die gesamte Ernte. Die Berichte von Zeitgenossen zeichnen ein dramatisches Bild: Die Menschen starben auf der Straße; es fehlte, wie bei der Pest, die Zeit, um die vielen Leichname würdig zu bestatten. Die Menschen flüchteten in Massen in die Kolonien in Kanada und den USA und brachten dorthin zahlreiche Krankheiten mit, für die sie die Mangelernährung anfällig gemacht hatte und die sich an den Zielorten nun epidemisch verbreiteten.

Denselben Fehler begehen wir bis heute. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden in den USA – und hier in Europa ist die Lage ähnlich – noch mehr als siebentausend Apfel- und zweitausend Birnensorten gezüchtet; heute beherrschen nur noch zwei Birnensorten sechsundneunzig Prozent des Marktes. Oder die Kartoffeln: Es gibt weltweit vermutlich zigtausend Sorten, und heute werden nur noch vier kommerziell genutzt. Das ist gefährlich. Wenn wir uns bei unserer Ernährung nur auf eine verschwindend geringe Zahl von Genotypen verlassen, macht uns das schnell zum Opfer von Pflanzenkrankheiten. Jede Krankheit einer »Schlüssel«-Art kann dann verheerende Folgen für uns haben.

PETRINI: Und das wird passieren, weil die Natur nicht so denkt wie wir. Nimm etwa die Sache mit den Bananen: Bis Ende der 1970er-Jahre aßen wir in Europa und Nordamerika nur eine einzige Sorte, Big Mike oder Gros Michel.



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